Mittwoch, 29. Oktober 2014

Allerheiligen in Polen


In einem der letzten Beiträge, der auf Polnisch entstand, brachte ich dem polnischen Leser deutsche Friedhöfe näher, sowie die Art und Weise, in der Allerheiligen und Allerseelen in Deutschland verbracht werden. Da es einige kulturelle Unterschiede gibt, möchte ich sie nun kurz beschreiben.


Friedhof (cmentarz) in meiner Heimatstadt

Fot. Polschland

Am 1. November (1 listopada) feiert man Wszystkich Świętych, was wörtlich übersetzt Allerheiligen bedeutet.

Ein Großteil der Polen bezeichnet den Tag aber als Święto Zmarłych (Totenfeier), was von der katholischen Kirche stark verpönt ist und auf die Zeiten des Kommunismus zurückgeht. Schon damals erkannte die Regierung, dass es sich um ein wichtiges Datum handelt und verordnete einen gesetzlichen Feiertag „zur Ehre der Verstorbenen“ - wie es offiziell hieß.

2. November (2 listopada), Zaduszki (Allerseelen) ist in Polen kein gesetzlicher Feiertag.

  Vorbereitungen in vollem Gange

Fot. Polschland

Kurz vor den zwei Tagen ist auf den polnischen Friedhöfen jede Menge los: selbst diejenigen, die sich selten um die Familiengrabmale kümmern, schrubben und putzen die Steine, kehren und harken das Laub, schmücken die Gräber mit Tannenzweigen, Kränzen und Chrysanthemensträuße.

Die Blumen dürfen überwiegend frisch sein, obwohl Polen normalerweise alle Arten von Kunstblumen lieben.

Wenn es um den Grabschmuck geht, wird dieser oft nach dem Motto arrangiert: je mehr, desto besser. Man kann es auch als Beweis der Zuneigung für den Toten interpretieren, oder, was auch nicht selten der Fall ist, als Zeichen des polnischen Individualismus und Eigenwillens. Zum Beispiel, auf das Grab einer verstorbenen Mutter vierer Kinder können gleichzeitig vier Kränze gelegt werden, es sei denn, die Geschwister einigen sich, wer dieses Jahr für das Dekor zuständig ist.





Das Allerheiligen-Sortiment in einem Supermarkt
 
Quelle: cozadzien.pl
 
Heutzutage stellt der Kauf einer verzierten Grabschale oder eines fertigen Grablegers  kein Problem dar - die werden sogar in den Supermärkten angeboten. Nichtsdestotrotz basteln viele Personen ihre Grabgestecke selber. Da man alle Utensilien kaufen kann (von Steckschaum bis zum weiß gefärbten Affenbrot), sind solche Kreationen immer seltener zu beobachten. Hier meine ich z. B. schuppenartige Strohkränze mit Efeublättern oder farbenreiche Chrysanthemen aus Wachspapier, mit geschickt gedrehten Blüten. Es sind in der Regel auch alte Frauen, die sie seit Jahren gestalten und wenn sie sterben, gerät auch diese Kunst in Vergessenheit.


Ganz traditionelle, selbstgebastelte und "altmodische" Kränze, wie diese auf den Fotos, werden leider immer seltener...

 Fot. Polschland

Wie sich das Grab (grób) präsentiert, spielt allgemein eine große Rolle, denn jedes Jahr spielt sich auf den polnischen Friedhöfen eine Art von Wettbewerb ab, wessen Ruhestätte am schönsten geschmückt ist.

Nicht zu übersehen ist auch die Tatsache, dass in Polen bunte und große Grablichter (znicze) äußerst beliebt sind. Manche Modelle sind in Deutschland gar nicht anzutreffen, wie z. B. riesige kobaltblaue Vasen, bauchige Gefäße mit Kunstblumen darin, von Lichtern in Form eines Nikolaus auf einem Schlitten, eines Weihnachtsbaumes oder Ostereis ganz zu schweigen.

Viele Grablichter sind ein Beweis dafür, dass man an den Verstorbenen denkt. Es gehört natürlich dazu, ein Grablicht an Grabstätten von allen Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten anzuzünden.

1. November

„… die drei großen Grablichter sind wohl von Tante Jadzia, diese zwei roten stammen bestimmt vom Onkel. Wer aber das grüne mitgebracht hat, hab’ ich keine Ahnung…“

Quelle: s.o.

Längst vergessen sind die Zeiten meiner Kindheit, als die Friedhöfe von weitem zu sehen waren, dank eines orangefarbigen Lichtscheins am Himmel. Damals gab es nur gläserne Grablichter ohne Deckel. Für uns, Kinder, war außerdem das Fingertauchen im heißen Wachs, um gruselige Wachsfinger zu bekommen, eine beliebte Unterhaltung! Um dies zu treiben, musste allerdings bis zur Finsternis gewartet werden. Während der feierlichen Messe auf dem Friedhof (wer wollte, war morgens auch in der Kirche) gehörte sich so was gar nicht.

Als ich noch klein war, kam mir der Gottesdienst unter freiem Himmel ewig vor. Wenn das Wetter nicht mitspielte - und das war oft der Fall - fror man regelrecht auf dem kalten Boden. Und wehe, man musste auf die Toilette. Es waren noch keine Toi-Toi-Toiletten vor Ort! ;)

Nach der Eucharistiefeier hielt man sich noch lange auf dem Friedhof auf. Es kamen Verwandte, Nachbarn und Bekannte um auf „unserem“ Grab ein Grablicht aufzustellen, dann drehte man noch eine oder zwei Runden über das ganze Gelände, um dasselbe zu machen. Menschen sprachen miteinander, schließlich sind viele nur für den einen Tag aus anderen Orten Polens oder sogar aus dem Ausland angereist, wie meine Tante und mein Onkel aus NRW. Man bewertete die anderen Grabdekorationen, wählte die schönsten und kreativsten, die Erwachsenen tauschten die neuesten Gerüchte aus.

 Allerheiligen 1984

Quelle: Wikipedia

Nach der Dämmerung ging man noch einmal zum Friedhof, um die einzigartige Atmosphäre des Abends zu schnuppern, die aus dem Feuerschein, dem Geruch der Chrysanthemen, Tannen, Blätter, Wachs und Ruß bestand und dem Geräusch von zerbrechendem Glas heißer Grablichter.

Je nach Lust und Wetter, begab man sich noch um Mitternacht zu den Gräbern. Nur einmal im Jahr spürte ich als Kind das Gefühl der Sicherheit und Gemütlichkeit - an diesem sonst unheimlichen und furchterregenden Ort. Als ob dieser von den vielen Lichtern gezähmt würde!


 Friedhof in meiner Heimatstadt

Fot. Polschland

Das Gleiche wiederholte sich am zweiten Tag, mit dem Unterschied, dass die Messe morgens in der Pfarrkirche stattfand und auf dem Friedhof erst abends.

Als Teenager verabredeten wir uns mit Freunden ebenfalls auf dem Friedhof, der sich ohnehin an den Tagen in einen Zentralplatz der Stadt verwandelte.

In der Woche danach besuchten wir die Familiengräber in den benachbarten Ortschaften, was auch ein Anlass zum Wiedersehen mit Dorfverwandten war.

 Auch die polnische Sängerin und Skandal-Nudel Doda postete ein Friedhof-Foto von sich - in einem passenden Outfit, versteht sich!

Quelle: telemagazyn.pl

Jetzt, wo ich schon erwachsen bin und in meinem Leben kaum etwas wie vorher ist, spüre ich die Stimmung von Allerheiligen wenig. Ich glaube, dass nicht nur die Jahre, die ich auf dem Buckel habe, dabei eine Rolle spielen. Es ist auch die Tatsache, dass ich im Ausland lebe und mir vieles krasser erscheint als damals, als ich noch keinen Vergleich zu dem „Anderen“ hatte. 

Mich ärgert beispielsweise, dass auf meinem heimatlichen Friedhof niemand auf die Mülltrennung achtet. Grelle und auffallende Grablichter erscheinen mir doppelt so kitschig wie vorher.

Die an Allerheiligen auffällig gekleideten Damen haben sogar ihren Namen: cmentarianki. Das Wort wurde nach dem Vorbild des abwertenden Begriffes galerianki gebildet. Als galerianki bezeichnete man Mädchen, die ihre Freizeit in Shoppingmalls (galeria handlowa) verbrachten.

Quelle: s.o.

In Polen ist ein Friedhofbesuch ein Muss - für ganz viele nicht gerade eine Glaubenssache, die man in Würde erlebt. Die Verwandlung des Gottesackers in einen Schauplatz ist kein Geheimnis - die Polen sind sich dessen durchaus bewusst.

Die Alleen fungieren regelrecht als Laufsteg. Frauen übertreffen sich in Sachen Make-up, Frisur und Kleidung. Dazu gehören auch die obligatorischen Stöckelschuhe, die extrem unpraktisch sind, wenn man die polnischen Umstände beachtet, zu denen u. a. die schlammigen Wege zwischen den Grabstellen gehören.

Als Katholikin in Deutschland bin ich Menschenmassen nicht mehr gewohnt, eine erkennbare Kleiderordnung gibt es hierzulande auch nicht. Dieses Modell steht mir näher als das polnische.

Allerheiligen und Allerseelen betrachten viele Polen als eine gute Gelegenheit, sich mit den Verwandten zu treffen, mit denen man oft keinen regelmäßigen Kontakt hat, vor allem, wenn die Familie zerstreut lebt. Der eine oder andere schaut bestimmt zu tief ins Glas...

 Aktion „Grablicht“

- Bitte pusten Sie!

Quelle: stefczyk.info

  - Wo warst du an Allerheiligen?

- Im Stau.

Quelle: zuch.blox.pl

Die Polen gelten sowieso als Verkehrssünder - ein bekanntes polnisches Sprichwort sagt doch, dass Verbote dazu da sind, sie zu brechen.

Kein Wunder also, dass die Polizei vor, während und nach diesen Tagen eine landesweite Aktion „Grablicht“ (Akcja „Znicz“) durchführt, um den Straßenverkehr zu koordinieren und die Nüchternheit der Fahrer zu überprüfen.

 Allerheiligen in Breslau

Quelle: antoni-w.wp.pl


Der berühmte polnische Dichter Stanisław Wyspiański schrieb 1904:

[…] der November ist gefährlich für den Polen. / Und bedeutungsvoll*.

Recht hatte er!


* Quelle: S. Wyspiański, Die Warschauerin; Novembernacht, G. Müller Verlag, München 1918; wolnelektury.pl

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