In einem der letzten Beiträge, der auf Polnisch
entstand, brachte ich dem polnischen Leser deutsche Friedhöfe näher, sowie die
Art und Weise, in der Allerheiligen und Allerseelen in Deutschland verbracht
werden. Da es einige kulturelle Unterschiede gibt, möchte ich sie nun kurz
beschreiben.
Friedhof (cmentarz) in meiner Heimatstadt
Fot. Polschland
Am 1. November (1 listopada) feiert man Wszystkich Świętych,
was wörtlich übersetzt Allerheiligen bedeutet.
Ein Großteil der Polen bezeichnet
den Tag aber als Święto Zmarłych (Totenfeier), was von der katholischen Kirche
stark verpönt ist und auf die Zeiten des Kommunismus zurückgeht. Schon damals
erkannte die Regierung, dass es sich um ein wichtiges Datum handelt und
verordnete einen gesetzlichen Feiertag „zur Ehre der Verstorbenen“ - wie es
offiziell hieß.
2. November (2 listopada), Zaduszki (Allerseelen) ist in Polen kein
gesetzlicher Feiertag.
Vorbereitungen in vollem Gange
Fot. Polschland
Kurz vor den zwei Tagen ist auf den polnischen
Friedhöfen jede Menge los: selbst diejenigen, die sich selten um die Familiengrabmale
kümmern, schrubben und putzen die Steine, kehren und harken das Laub, schmücken
die Gräber mit Tannenzweigen, Kränzen und Chrysanthemensträuße.
Die Blumen
dürfen überwiegend frisch sein, obwohl Polen normalerweise alle Arten von Kunstblumen
lieben.
Wenn es um den Grabschmuck geht, wird dieser oft nach dem Motto
arrangiert: je mehr, desto besser. Man kann es auch als Beweis der Zuneigung für
den Toten interpretieren, oder, was auch nicht selten der Fall ist, als Zeichen
des polnischen Individualismus und Eigenwillens. Zum Beispiel, auf das Grab
einer verstorbenen Mutter vierer Kinder können gleichzeitig vier Kränze gelegt
werden, es sei denn, die Geschwister einigen sich, wer dieses Jahr für das
Dekor zuständig ist.
Das Allerheiligen-Sortiment in einem Supermarkt
Quelle: cozadzien.pl
Heutzutage stellt der Kauf einer verzierten
Grabschale oder eines fertigen Grablegers kein Problem dar - die werden sogar in den
Supermärkten angeboten. Nichtsdestotrotz basteln viele Personen ihre Grabgestecke
selber. Da man alle Utensilien kaufen kann (von Steckschaum bis zum weiß
gefärbten Affenbrot), sind solche Kreationen immer seltener zu beobachten. Hier
meine ich z. B. schuppenartige Strohkränze mit Efeublättern oder farbenreiche Chrysanthemen
aus Wachspapier, mit geschickt gedrehten Blüten. Es sind in der Regel auch alte
Frauen, die sie seit Jahren gestalten und wenn sie sterben, gerät auch diese
Kunst in Vergessenheit.
Ganz traditionelle, selbstgebastelte und "altmodische" Kränze, wie diese auf den
Fotos, werden leider immer seltener...
Fot. Polschland
Wie sich das Grab (grób) präsentiert, spielt allgemein
eine große Rolle, denn jedes Jahr spielt sich auf den polnischen Friedhöfen
eine Art von Wettbewerb ab, wessen Ruhestätte am schönsten geschmückt ist.
Nicht
zu übersehen ist auch die Tatsache, dass in Polen bunte und große Grablichter (znicze)
äußerst beliebt sind. Manche Modelle sind in Deutschland gar nicht anzutreffen,
wie z. B. riesige kobaltblaue Vasen, bauchige Gefäße mit Kunstblumen darin, von
Lichtern in Form eines Nikolaus auf einem Schlitten, eines Weihnachtsbaumes
oder Ostereis ganz zu schweigen.
Viele Grablichter sind ein Beweis dafür, dass
man an den Verstorbenen denkt. Es gehört natürlich dazu, ein Grablicht an
Grabstätten von allen Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten anzuzünden.
1. November
„… die drei großen Grablichter sind
wohl von Tante Jadzia, diese zwei roten stammen bestimmt vom Onkel. Wer aber
das grüne mitgebracht hat, hab’ ich keine Ahnung…“
Quelle: s.o.
Längst vergessen sind die Zeiten meiner
Kindheit, als die Friedhöfe von weitem zu sehen waren, dank eines
orangefarbigen Lichtscheins am Himmel. Damals gab es nur gläserne Grablichter ohne
Deckel. Für uns, Kinder, war außerdem das Fingertauchen im heißen Wachs, um gruselige
Wachsfinger zu bekommen, eine beliebte Unterhaltung! Um dies zu treiben, musste
allerdings bis zur Finsternis gewartet werden. Während der feierlichen Messe
auf dem Friedhof (wer wollte, war morgens auch in der Kirche) gehörte sich so
was gar nicht.
Als ich noch klein war, kam mir der Gottesdienst unter freiem
Himmel ewig vor. Wenn das Wetter nicht mitspielte - und das war oft der Fall - fror
man regelrecht auf dem kalten Boden. Und wehe, man musste auf die Toilette. Es
waren noch keine Toi-Toi-Toiletten vor Ort! ;)
Nach der Eucharistiefeier hielt man
sich noch lange auf dem Friedhof auf. Es kamen Verwandte, Nachbarn und Bekannte
um auf „unserem“ Grab ein Grablicht aufzustellen, dann drehte man noch eine
oder zwei Runden über das ganze Gelände, um dasselbe zu machen. Menschen sprachen
miteinander, schließlich sind viele nur für den einen Tag aus anderen Orten
Polens oder sogar aus dem Ausland angereist, wie meine Tante und mein Onkel aus
NRW. Man bewertete die anderen Grabdekorationen, wählte die schönsten und
kreativsten, die Erwachsenen tauschten die neuesten Gerüchte aus.
Allerheiligen 1984
Quelle: Wikipedia
Nach der
Dämmerung ging man noch einmal zum Friedhof, um die einzigartige Atmosphäre des
Abends zu schnuppern, die aus dem Feuerschein, dem Geruch der Chrysanthemen,
Tannen, Blätter, Wachs und Ruß bestand und dem Geräusch von zerbrechendem Glas heißer
Grablichter.
Je nach Lust und Wetter, begab man sich noch um Mitternacht zu den
Gräbern. Nur einmal im Jahr spürte ich als Kind das Gefühl der Sicherheit und
Gemütlichkeit - an diesem sonst unheimlichen und furchterregenden Ort. Als ob dieser
von den vielen Lichtern gezähmt würde!
Friedhof in meiner Heimatstadt
Fot. Polschland
Das Gleiche wiederholte sich am zweiten Tag, mit
dem Unterschied, dass die Messe morgens in der Pfarrkirche stattfand und auf
dem Friedhof erst abends.
Als Teenager verabredeten wir uns mit Freunden
ebenfalls auf dem Friedhof, der sich ohnehin an den Tagen in einen Zentralplatz
der Stadt verwandelte.
In der Woche danach besuchten wir die Familiengräber in den
benachbarten Ortschaften, was auch ein Anlass zum Wiedersehen mit Dorfverwandten
war.
Auch die polnische Sängerin und Skandal-Nudel
Doda postete ein Friedhof-Foto von sich - in einem passenden Outfit, versteht
sich!
Quelle: telemagazyn.pl
Jetzt, wo ich schon erwachsen bin und in meinem
Leben kaum etwas wie vorher ist, spüre ich die Stimmung von Allerheiligen wenig.
Ich glaube, dass nicht nur die Jahre, die ich auf dem Buckel habe, dabei eine
Rolle spielen. Es ist auch die Tatsache, dass ich im Ausland lebe und mir vieles
krasser erscheint als damals, als ich noch keinen Vergleich zu dem „Anderen“
hatte.
Mich ärgert beispielsweise, dass auf meinem heimatlichen Friedhof niemand
auf die Mülltrennung achtet. Grelle und auffallende Grablichter erscheinen mir doppelt
so kitschig wie vorher.
Die an Allerheiligen auffällig gekleideten Damen
haben sogar ihren Namen: cmentarianki. Das Wort wurde nach dem Vorbild des abwertenden
Begriffes galerianki gebildet. Als galerianki bezeichnete man Mädchen, die ihre
Freizeit in Shoppingmalls (galeria handlowa) verbrachten.
Quelle: s.o.
In Polen ist ein Friedhofbesuch ein Muss - für
ganz viele nicht gerade eine Glaubenssache, die man in Würde erlebt. Die
Verwandlung des Gottesackers in einen Schauplatz ist kein Geheimnis - die Polen
sind sich dessen durchaus bewusst.
Die Alleen fungieren regelrecht als Laufsteg.
Frauen übertreffen sich in Sachen Make-up, Frisur und Kleidung. Dazu gehören
auch die obligatorischen Stöckelschuhe, die extrem unpraktisch sind, wenn man
die polnischen Umstände beachtet, zu denen u. a. die schlammigen Wege zwischen
den Grabstellen gehören.
Als Katholikin in Deutschland bin ich Menschenmassen nicht
mehr gewohnt, eine erkennbare Kleiderordnung gibt es hierzulande auch nicht. Dieses
Modell steht mir näher als das polnische.
Allerheiligen und Allerseelen betrachten viele
Polen als eine gute Gelegenheit, sich mit den Verwandten zu treffen, mit denen
man oft keinen regelmäßigen Kontakt hat, vor allem, wenn die Familie zerstreut
lebt. Der eine oder andere schaut bestimmt zu tief ins Glas...
Aktion „Grablicht“
- Bitte pusten Sie!
Quelle: stefczyk.info
- Wo warst du an Allerheiligen?
- Im Stau.
Quelle: zuch.blox.pl
Die Polen gelten sowieso als Verkehrssünder - ein
bekanntes polnisches Sprichwort sagt doch, dass Verbote dazu da sind, sie zu
brechen.
Kein Wunder also, dass die Polizei vor, während und nach diesen Tagen eine
landesweite Aktion „Grablicht“ (Akcja „Znicz“) durchführt, um den
Straßenverkehr zu koordinieren und die Nüchternheit der Fahrer zu überprüfen.
Allerheiligen in Breslau
Quelle: antoni-w.wp.pl
Der berühmte polnische Dichter Stanisław
Wyspiański schrieb 1904:
[…] der November ist gefährlich für den Polen. / Und
bedeutungsvoll*.
Recht hatte er!
* Quelle: S. Wyspiański, Die Warschauerin;
Novembernacht, G. Müller Verlag, München 1918; wolnelektury.pl
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