Beinahe jeder Pole, der nach Deutschland kommt, sowie
ein Deutscher, der sich auf eine Reise nach Polen begibt, wird mit einem wichtigen
Unterschied konfrontiert, wenn es um das Fahrradfahren geht.
Als begeisterte
Fahrradfahrerin habe ich in Deutschland ein Paradies für mich entdeckt. Fahrrad
fahre ich fast jeden Tag: zur Arbeit, zum Einkaufen, zu verschiedenen Terminen
oder einfach nur so, um zu entspannen. Meine Leidenschaft für den eigenen
Drahtesel wird von der Stadt großzügig unterstützt. Fast überall sind
Fahrradwege vorhanden, Autofahrer nehmen auf Fahrradfahrer Rücksicht. Es werden
sogar Fahrradreparaturkurse angeboten, damit man eventuelle technische Probleme
selbst bewältigen kann. Im nahe gelegenen Familienzentrum findet regelmäßig
eine Art Sprechstunde statt, in der sich ein ehrenamtlicher Rentner um kaputte
Fahrräder kümmert und dem Besitzer beim Reparieren hilft. Die Touristen, die
mit dem Fahrrad unterwegs sind, können auch in speziellen Fahrradhotels
übernachten. Den nächsten Fahrradverleih zu finden, ist nicht schwer. Manche Ferienwohnungsbesitzer
bieten ihren Gästen sogar einen Abholservice. Wenn die Gäste z. B. am Morgen
losfahren und dann am Abend doch feststellen, dass sie schon zu müde für die restlichen
25 Kilometer sind, holt man sie einfach mit Auto und Fahrradträger ab.
Ungern
muss ich gestehen, dass das Leben der Fahrradfahrer in Polen ungleich schwieriger
ist. Es geht nicht nur um den Mangel an guten Fahrradwegen sondern vielmals um
die allgemeine Einstellung. Es fängt schon bei der Tatsache an, wie man als
Fahrradfahrer gesehen wird. Oft habe ich das Gefühl, als würde ich für die vorbeifahrenden
Autofahrer buchstäblich eine Tarnkappe tragen. Wenn ich entlang der Hauptstraße
in meiner Heimatstadt fahre, ist dies noch stressiger, als die zahlreichen Löcher
im Asphalt, die sowohl an regnerischen Tagen (riesige Pfützen), als auch sonst
eine Falle für meine Reifen und Knochen sind. Kurzerhand beschließt man deshalb,
dort, wo der Straßenverkehr größer ist, auf dem Bürgersteig zu fahren. Da
trifft man auf ein neues Problem: oft sind diese zu eng und auch ungeeignet, ganz
zu schweigen von den bösen Blicken der Passanten („Gibt es keine Straße?!“).
Fahrradwege in Polen - zwei negative Beispiele...
Quelle: http://i.imgur.com/JfnI1Zf.jpg und mmgrudziadz.pl
Auf
dem Land sieht die Situation nicht besser aus. Auf vielen Landstraßen kann man zwar
mit dem Fahrrad Pirouetten drehen, aber die schlimmste Gefahr hat ein scharfes
Gebiss, vier flinke Pfoten und heißt: Hund. Ich kann mich noch zu gut daran
erinnern, wie ich vor mehreren bellenden und äußerst aggressiven Kläffern Gas
geben musste oder nach dem Anblick einer Streuner-Horde meine Route kurzerhand
ändern musste. In meiner Gegend ist es leider üblich, sich auf dem Land eher
wenig um mögliche Angriffe der Vierbeiner zu kümmern. Man fährt z. B. aufs Feld
und lässt das Tor sperrangelweit offen. Wenn die Hunde überall in der Gegend
laufen, stört es fast niemanden; schließlich gehört es zu ihrer Aufgabe, Fremde
wegzujagen. Aus diesem Grund fahre ich nicht mehr mit dem Fahrrad durch die malerischen
Dörfer und Felder meiner Region (sonst müsste ich einem Rat meines Vaters
folgen und Pfefferspray samt Baseballschläger mitnehmen) und bin auf den Roller
umgestiegen. Zugegeben, es ist umweltunfreundlich, teuerer, lauter und man muss
einen größeren Sturzhelm tragen. Aber im Fall einer Hundeverfolgung lässt es
sich auch schneller fliehen.
Quelle: Internet
Wenn wir schon beim Thema Fahrradhelm sind - als
ich noch in Polen lebte, besaß ich nicht mal einen. Mein Wissen über die
möglichen Konsequenzen eines Fahrradsturzes war ebenfalls gering - was mich
heutzutage wundert. Auf spezielle Kleidung oder Schutz legte man einfach kein
Wert, wenn man kein Profi- oder Hobbysportler war. Wenn schon Kinder selbst
meistens ohne Helm fuhren, wäre ein Erwachsener mit einem bestimmt ein Lacher.
Einst fragte mich mein damaliger Student aus Australien, warum die überwiegende
Mehrheit der Polen ohne Fahrradhelm fährt. Aufgrund seiner (nicht immer
angenehmen) Erfahrungen mit polnischen Straßen, wunderte ihn das noch mehr. Ich
musste kurz darüber nachdenken; eine Antwort zu finden fiel mir nicht leicht. Es
war für mich doch selbstverständlich, dass man ohne Helm fährt (selten sah ich
eine Ausnahme). Am leichtesten ließ es sich in Bezug auf polnische Männer
erklären. „Weiß du, ich vermute, dass sie sich damit nicht männlich fühlen und
glauben, dass ein Fahrradhelm nur den Weicheiern zusteht“, antwortete ich
schließlich. Diese Aufklärung konnte er aber nicht nachvollziehen; sein verwundertes
„Why?!“ kann ich heute noch hören. Da war definitiv ein Wurm drin.
Ich kann
mich nicht mehr daran erinnern, wann es war, aber es passierte erst nach meinem
Umzug nach Deutschland. Eines Tages war ich doch Besitzerin und eifrige
Trägerin eines Fahrradhelms. Jetzt habe ich sogar den zweiten. Und es waren
nicht mal die Deutschen, die mich davon überzeugten, einen zu tragen. Es war mein
oben erwähnter australischer Bekannter, der noch in seinem Heimatland dem Tod
zweimal von der Schippe gesprungen war. Dass er noch am Leben war, hat er nur
dem Helm zu verdanken. Jetzt schwöre ich regelrecht auf das Fahrradhelm-Tragen,
und das bei nahezu jeder Gelegenheit, unabhängig davon, wie weit die Strecke
ist. Zugegeben, in Deutschland fiel es mir leichter, einen aufzusetzen. Man
fällt nicht auf. Anders als in Polen, was mir neuerdings wieder bewusst wurde,
als wir im Sommer die deutsch-polnische Grenze auf der Insel Usedom übertraten
und auf der Fußgängerzone in Świnoujście standen.
Leider muss ich an dieser
Stelle etwas Peinliches beichten: auch bei mir gibt es Ausnahmen. Wenn ich in
Polen bin, trage ich keinen Fahrradhelm, um nicht aufzufallen.
Ein polnisches
Meinungsforschungsinstitut CBOS befragte letztes Jahr die Radfahrer, ob Helme
Pflicht sein sollten. 62 % der Befragten antworteten, dass es jedem überlassen sein
sollte, ob er einen trägt oder nicht.
Quelle: polskanarowery.sport.pl
Als mein Vater
bei mir in Deutschland zu Besuch war, lud ich ihn zu einem kurzen
Fahrradausflug entlang des Flusses ein. Ich beharrte darauf, dass er einen Helm
trägt. Er wollte natürlich nicht, protestierte, schließlich sei er mehr als
fünfzig Jahre ohne einen klargekommen. Hat es aber, mir zuliebe, getan. „Das
gab es noch nicht, ich in einem Helm!“, hörte ich ihn dabei murmeln. Der
Anblick meines sonst so selbstbewussten Vaters, der sich mit dem Ding quälte,
war amüsant und erbärmlich zugleich. Ungefähr nach einem Kilometer lindernde
ich seine Schmerzen - das Tragen stellte sich als so unangenehm heraus, weil
die Schnallen zu eng waren. Ab dem Moment ging es meinem Vater (zumindest
körperlich) besser.
Fahrrad - das bessere Auto?
Quelle: forbes.pl
Die vielen Jahre des Kommunismus prägten das Verhältnis zum
Fahrradfahren - ein Phänomen, das sich übrigens in allen Ostblockländern
beobachten ließ. Wer nach der Wende noch mit dem Fahrrad unterwegs war, war in
gewissem Sinne ein Verlierer. Er konnte sich, wie man sofort vermutete, kein
Auto leisten. Und wer sich eins leisten konnte, zeigte es auch. Das Auto avancierte
schnell zum Statussymbol. Sonntags zur Kirche mit dem Fahrrad fahren? War in
meiner Familie unmöglich. Zu Fuß? Wieso, wenn man bequem mit dem Auto fahren
kann, selbst wenn die Strecke kurz ist. Vielen ging es und geht es genauso. Der
Rekord gehört meinem neureichen Nachbar, der regelmäßig seine Brötchen mit
einem Geländewagen holte. Von Zuhause bis zum Supermarkt hatte er stolze 300
Meter.
Für Polen markant ist die Tatsache, dass man mit seinem Drahtesel nicht
ohne Grund unterwegs ist. Man muss schon seine (oft ideologischen) Gründe
haben. Wenn ein Mann im besten Alter nur mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt,
entsteht die Mutmaßung, er habe seinen Führerschein wegen einer Rauschfahrt
verloren.
Eine andere Gruppe Fahrradfahrer sind Rentner und Kinder im
Grundschulalter. Die einen sind meistens arm, die anderen dagegen noch zu jung.
Eine spezielle Gruppe, die relativ neu ist, bilden junge Großstadtmenschen, die
so genannten Hipsters, die sich bewusst für die Zweiräder entschieden haben. Das
Fahrradfahren ist für sie Teil der Lebensphilosophie, mal was ganz anderes, was
sie von den durchschnittlichen Menschen unterscheidet. Fahrrad ist „in“, gibt
sogar das Gefühl, man sei westeuropäischen Metropolen (wie z. B. Amsterdam) ein
Stück näher. Das Fahrrad muss also dementsprechend auffällig sein, am liebsten ein
Holländer mit einem Weidekorb oder ein Oldshool-Rennrad.
Polnische Stars und
Celebrities zeigten ihr Gespür für Mode und ließen sich mit eigenem Drahtesel
fotografieren, kamen zu Events mit Rad statt dicker Limousine.
„Sie hatte einfach abgefahrene
Ideen! Bekannte polnische Schauspielerin kam mit dem Fahrrad zum roten Teppich.
Hat sie sich blamiert?“, schrieb vor einem Jahr „Fakt“. Ein anderes
Klatschportal fragte: war es Werbung für einen gesunden Lebensstil oder
Medienprovokation?
Quelle: fakt.pl
Moderator Hubert Urbański, kam auf
eine Veranstaltung ebenfalls mit dem Fahrrad - und mit einem Fahrradanhänger. Beide
wurden fleißig abfotografiert.
Quelle: pomponik.pl
Bloggerinnen und
Blogger fotografierten sich ebenfalls mit ihrem Tretross, wie z. B. Bloggerin
und Ministerpräsidententochter Kasia Tusk. Wie ein Klatschportal zügig
überprüfte, kostete das gute Stück ungefähr zwei polnische Durchschnittsmonatsgehälter.
Da ging was schief…
Statt dem Fahrradfahren eine positive Werbung zu machen, sorgte Kasia Tusk für
böse Schlagzeilen. Ihr Gefährt soll 3.000 Zloty gekostet haben.
Quelle: plotek.pl
Im Internet wimmelte es vor einiger Zeit von Schnappschussfotos, die Promis während
einer Radfahrt zeigten, wie Skandalnudel und Sängerin Doda auf ihrem
pinkfarbenen Gefährt.
Ob in Deutschland so viel Aufmerksam fahrradfahrenden Künstlern
geschenkt würde, ist mehr als fraglich.
Einen gegenwärtigen polnischen
Fahrrad-Mythos illustriert gut ein Zitat aus einem Artikel über Małgosia Radkiwicz, eine Boutiqueinhaberin. „Ihre
Kindheit verbrachte sie in einer Försterei bei Kielce und als sie das Studium
angefangen hatte, träumte sie von einem Fahrrad im Retro-Romance-Stil: mit
einem schwanartigen Fahrradrahmen, bequemen Sattel und geraden Lenker. Sie
stellte sich vor, wie sie im luftigen Kleid fährt. Sie hatte vor, ihre Haare zu
Locken zu wickeln, ein Pünktchenkleid anzuziehen, das Rad mit einem Weidekorb zu
zieren. Und dann losfahren und stolz wie eine Königin gleiten, gestreckt, als
säße sie auf einem Thron, aber sicherlich würde sie dabei die heimlichen Blicke
der Jungen in Tweedsakkos merken“, so beschrieb die Zeitschrift „Claudia“
Małgosias Mädchenträume, die tatsächlich in Erfüllung gingen. Weiter erzählt die
junge Frau selbst: „Ich fahre jeden Tag Rad, was nicht bedeutet, dass ich für die
Tour de Pologne trainiere. Für mich ist das der Lebensstil. Ich möchte daher
stilvoll und chic aussehen: gerne in High-Heels [!], im Kleid und Hut [!]. In
den Weidekorb beim Lenkrad tue ich frisches Marktgemüse oder Blumen hinein, um
es noch romantischer wirken zu lassen. Ich glaube an den Grundsatz: Zeige mir
dein Fahrrad und ich sage, wer du bist“.
„Es ärgert mich, dass man in Polen vom
Fahrrad nur in Bezug auf die Erholung denkt. Ich träume davon, dass ein
Stadtradfahrer kein Sonderling mehr ist“, fügt sie noch hinzu. Hm, dies
widerspricht ein wenig dem, was sie zuvor gesagt hatte. Denn in meiner Stadt
(jetzt meine ich Deutschland natürlich), wo es völlig normal ist, Fahrrad zu
fahren und keine große Sache daraus zu machen, würde so eine Kleidung
verwunderte Blicke anziehen - schon aufgrund des Hutes und der Stöckelschuhe. Keine
praktische Fahrradausrüstung, nicht wahr?
Als ich einmal auf eine Veranstaltung
mit dem Fahrrad und hohen Absätze kam (das Fahrrad war dabei kein Teil des
Stylings, sondern das schnellste Verkehrsmittel) wurde mir wörtlich gratuliert.
Ich bewies damals für den Rest der Damen Mut, wenn auch Leichtsinnigkeit.
Małgosias
Fahrradschmuckboutique wird immer bekannter. Finden kann man da Verschiedenes, von
gestrickten Wollhüllen für Fahrradschlösser (der Winter steht vor der Tür), bis
Kunstblumen, speziellen Plastikschutzhüllen für Stöckelschuhe und muffinförmigen
Ventilkappen. Irgendetwas für Fahrradhelme oder diese selbst - Fehlanzeige. Schade.
Es freut mich aber, dass dem Drahtesel in Polen in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit
geschenkt wurde. Man organisiert z. B. regelmäßige Veranstaltungen, die für das
Fahrradfahren in der Stadt werben (Święta Cykliczne), während derer hunderte Menschen
durch die Straßen fahren.
Leider gibt es auch weniger fröhliche Anlässe, zu denen
sich die Radfahrer zeigen, wie die gemeinsame Ausfahrt in Lublin, nach dem Tod
einer Radfahrerin, die von einem Auto überfahren wurde. Auch wenn die
Veranstaltungen gerade ein Zeichen dafür sind, dass es noch nicht ganz
alltäglich ist, Rad zu fahren, sind sie ein guter Anfang.
Im November 2013
wirft Michał Kieś (Facebookprofil „Rowerowa Metropolia Górnośląska“), dem
oberschlesischen Woiwodschaftsmarschall Mirosław Sekuła, vor, dass er genau überprüfe,
mit welchem Verkehrsmittel seine Mitarbeiter zur Arbeit kommen.
„Diejenigen,
die denken, dass die Radfahrer von ihm begrüßt wurden, liegen jedoch falsch.
Woiwodschaftsmarschall Sekuła war der Meinung, dass ein Fahrrad der Ernsthaftigkeit eines Beamten widerspricht“, meinte der Internetnutzer.
Mirosław Sekuła soll auch mit dem unangenehmen Geruch der Rad fahrenden
Mitarbeiter unzufrieden gewesen sein. Außerdem störten ihn die engen Fahrradhosen.
Der Woiwodschaftsmarschall schlug zurück und
kündigte an, am nächsten Freitag (08.11.13) mit dem Fahrrad zur Arbeit zu
fahren, um Verleumdungen und Gerüchten ein Ende zu setzen. Er setzte sich drei
Kilometer vor der Behörde auf sein Tretross und kam wie ein rassiger Radfahrer
an - ausgestattet mit Fahrradhelm, spezieller Weste, Schuhen und einer extra
Leuchte. Empfangen wurde er von zahlreichen Reportern.
Quelle: tvs.pl
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PL
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