Samstag, 23. November 2013

Kulturelle Unterschiede: Das Fahrradfahren in Deutschland und Polen / Rowerem po Polsce i Niemczech



Beinahe jeder Pole, der nach Deutschland kommt, sowie ein Deutscher, der sich auf eine Reise nach Polen begibt, wird mit einem wichtigen Unterschied konfrontiert, wenn es um das Fahrradfahren geht.

Als begeisterte Fahrradfahrerin habe ich in Deutschland ein Paradies für mich entdeckt. Fahrrad fahre ich fast jeden Tag: zur Arbeit, zum Einkaufen, zu verschiedenen Terminen oder einfach nur so, um zu entspannen. Meine Leidenschaft für den eigenen Drahtesel wird von der Stadt großzügig unterstützt. Fast überall sind Fahrradwege vorhanden, Autofahrer nehmen auf Fahrradfahrer Rücksicht. Es werden sogar Fahrradreparaturkurse angeboten, damit man eventuelle technische Probleme selbst bewältigen kann. Im nahe gelegenen Familienzentrum findet regelmäßig eine Art Sprechstunde statt, in der sich ein ehrenamtlicher Rentner um kaputte Fahrräder kümmert und dem Besitzer beim Reparieren hilft. Die Touristen, die mit dem Fahrrad unterwegs sind, können auch in speziellen Fahrradhotels übernachten. Den nächsten Fahrradverleih zu finden, ist nicht schwer. Manche Ferienwohnungsbesitzer bieten ihren Gästen sogar einen Abholservice. Wenn die Gäste z. B. am Morgen losfahren und dann am Abend doch feststellen, dass sie schon zu müde für die restlichen 25 Kilometer sind, holt man sie einfach mit Auto und Fahrradträger ab.

Ungern muss ich gestehen, dass das Leben der Fahrradfahrer in Polen ungleich schwieriger ist. Es geht nicht nur um den Mangel an guten Fahrradwegen sondern vielmals um die allgemeine Einstellung. Es fängt schon bei der Tatsache an, wie man als Fahrradfahrer gesehen wird. Oft habe ich das Gefühl, als würde ich für die vorbeifahrenden Autofahrer buchstäblich eine Tarnkappe tragen. Wenn ich entlang der Hauptstraße in meiner Heimatstadt fahre, ist dies noch stressiger, als die zahlreichen Löcher im Asphalt, die sowohl an regnerischen Tagen (riesige Pfützen), als auch sonst eine Falle für meine Reifen und Knochen sind. Kurzerhand beschließt man deshalb, dort, wo der Straßenverkehr größer ist, auf dem Bürgersteig zu fahren. Da trifft man auf ein neues Problem: oft sind diese zu eng und auch ungeeignet, ganz zu schweigen von den bösen Blicken der Passanten („Gibt es keine Straße?!“).


 Fahrradwege in Polen - zwei negative Beispiele...

Quelle: http://i.imgur.com/JfnI1Zf.jpg und mmgrudziadz.pl

Auf dem Land sieht die Situation nicht besser aus. Auf vielen Landstraßen kann man zwar mit dem Fahrrad Pirouetten drehen, aber die schlimmste Gefahr hat ein scharfes Gebiss, vier flinke Pfoten und heißt: Hund. Ich kann mich noch zu gut daran erinnern, wie ich vor mehreren bellenden und äußerst aggressiven Kläffern Gas geben musste oder nach dem Anblick einer Streuner-Horde meine Route kurzerhand ändern musste. In meiner Gegend ist es leider üblich, sich auf dem Land eher wenig um mögliche Angriffe der Vierbeiner zu kümmern. Man fährt z. B. aufs Feld und lässt das Tor sperrangelweit offen. Wenn die Hunde überall in der Gegend laufen, stört es fast niemanden; schließlich gehört es zu ihrer Aufgabe, Fremde wegzujagen. Aus diesem Grund fahre ich nicht mehr mit dem Fahrrad durch die malerischen Dörfer und Felder meiner Region (sonst müsste ich einem Rat meines Vaters folgen und Pfefferspray samt Baseballschläger mitnehmen) und bin auf den Roller umgestiegen. Zugegeben, es ist umweltunfreundlich, teuerer, lauter und man muss einen größeren Sturzhelm tragen. Aber im Fall einer Hundeverfolgung lässt es sich auch schneller fliehen.

 Quelle: Internet

Wenn wir schon beim Thema Fahrradhelm sind - als ich noch in Polen lebte, besaß ich nicht mal einen. Mein Wissen über die möglichen Konsequenzen eines Fahrradsturzes war ebenfalls gering - was mich heutzutage wundert. Auf spezielle Kleidung oder Schutz legte man einfach kein Wert, wenn man kein Profi- oder Hobbysportler war. Wenn schon Kinder selbst meistens ohne Helm fuhren, wäre ein Erwachsener mit einem bestimmt ein Lacher.

Einst fragte mich mein damaliger Student aus Australien, warum die überwiegende Mehrheit der Polen ohne Fahrradhelm fährt. Aufgrund seiner (nicht immer angenehmen) Erfahrungen mit polnischen Straßen, wunderte ihn das noch mehr. Ich musste kurz darüber nachdenken; eine Antwort zu finden fiel mir nicht leicht. Es war für mich doch selbstverständlich, dass man ohne Helm fährt (selten sah ich eine Ausnahme). Am leichtesten ließ es sich in Bezug auf polnische Männer erklären. „Weiß du, ich vermute, dass sie sich damit nicht männlich fühlen und glauben, dass ein Fahrradhelm nur den Weicheiern zusteht“, antwortete ich schließlich. Diese Aufklärung konnte er aber nicht nachvollziehen; sein verwundertes „Why?!“ kann ich heute noch hören. Da war definitiv ein Wurm drin.

Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann es war, aber es passierte erst nach meinem Umzug nach Deutschland. Eines Tages war ich doch Besitzerin und eifrige Trägerin eines Fahrradhelms. Jetzt habe ich sogar den zweiten. Und es waren nicht mal die Deutschen, die mich davon überzeugten, einen zu tragen. Es war mein oben erwähnter australischer Bekannter, der noch in seinem Heimatland dem Tod zweimal von der Schippe gesprungen war. Dass er noch am Leben war, hat er nur dem Helm zu verdanken. Jetzt schwöre ich regelrecht auf das Fahrradhelm-Tragen, und das bei nahezu jeder Gelegenheit, unabhängig davon, wie weit die Strecke ist. Zugegeben, in Deutschland fiel es mir leichter, einen aufzusetzen. Man fällt nicht auf. Anders als in Polen, was mir neuerdings wieder bewusst wurde, als wir im Sommer die deutsch-polnische Grenze auf der Insel Usedom übertraten und auf der Fußgängerzone in Świnoujście standen.

Leider muss ich an dieser Stelle etwas Peinliches beichten: auch bei mir gibt es Ausnahmen. Wenn ich in Polen bin, trage ich keinen Fahrradhelm, um nicht aufzufallen.

Ein polnisches Meinungsforschungsinstitut CBOS befragte letztes Jahr die Radfahrer, ob Helme Pflicht sein sollten. 62 % der Befragten antworteten, dass es jedem überlassen sein sollte, ob er einen trägt oder nicht.
Quelle: polskanarowery.sport.pl

Als mein Vater bei mir in Deutschland zu Besuch war, lud ich ihn zu einem kurzen Fahrradausflug entlang des Flusses ein. Ich beharrte darauf, dass er einen Helm trägt. Er wollte natürlich nicht, protestierte, schließlich sei er mehr als fünfzig Jahre ohne einen klargekommen. Hat es aber, mir zuliebe, getan. „Das gab es noch nicht, ich in einem Helm!“, hörte ich ihn dabei murmeln. Der Anblick meines sonst so selbstbewussten Vaters, der sich mit dem Ding quälte, war amüsant und erbärmlich zugleich. Ungefähr nach einem Kilometer lindernde ich seine Schmerzen - das Tragen stellte sich als so unangenehm heraus, weil die Schnallen zu eng waren. Ab dem Moment ging es meinem Vater (zumindest körperlich) besser.

 Fahrrad - das bessere Auto?

Quelle: forbes.pl

Die vielen Jahre des Kommunismus prägten das Verhältnis zum Fahrradfahren - ein Phänomen, das sich übrigens in allen Ostblockländern beobachten ließ. Wer nach der Wende noch mit dem Fahrrad unterwegs war, war in gewissem Sinne ein Verlierer. Er konnte sich, wie man sofort vermutete, kein Auto leisten. Und wer sich eins leisten konnte, zeigte es auch. Das Auto avancierte schnell zum Statussymbol. Sonntags zur Kirche mit dem Fahrrad fahren? War in meiner Familie unmöglich. Zu Fuß? Wieso, wenn man bequem mit dem Auto fahren kann, selbst wenn die Strecke kurz ist. Vielen ging es und geht es genauso. Der Rekord gehört meinem neureichen Nachbar, der regelmäßig seine Brötchen mit einem Geländewagen holte. Von Zuhause bis zum Supermarkt hatte er stolze 300 Meter.

Für Polen markant ist die Tatsache, dass man mit seinem Drahtesel nicht ohne Grund unterwegs ist. Man muss schon seine (oft ideologischen) Gründe haben. Wenn ein Mann im besten Alter nur mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, entsteht die Mutmaßung, er habe seinen Führerschein wegen einer Rauschfahrt verloren.

Quelle: fakt.pl

Eine andere Gruppe Fahrradfahrer sind Rentner und Kinder im Grundschulalter. Die einen sind meistens arm, die anderen dagegen noch zu jung.

Eine spezielle Gruppe, die relativ neu ist, bilden junge Großstadtmenschen, die so genannten Hipsters, die sich bewusst für die Zweiräder entschieden haben. Das Fahrradfahren ist für sie Teil der Lebensphilosophie, mal was ganz anderes, was sie von den durchschnittlichen Menschen unterscheidet. Fahrrad ist „in“, gibt sogar das Gefühl, man sei westeuropäischen Metropolen (wie z. B. Amsterdam) ein Stück näher. Das Fahrrad muss also dementsprechend auffällig sein, am liebsten ein Holländer mit einem Weidekorb oder ein Oldshool-Rennrad.

Polnische Stars und Celebrities zeigten ihr Gespür für Mode und ließen sich mit eigenem Drahtesel fotografieren, kamen zu Events mit Rad statt dicker Limousine.

„Sie hatte einfach abgefahrene Ideen! Bekannte polnische Schauspielerin kam mit dem Fahrrad zum roten Teppich. Hat sie sich blamiert?“, schrieb vor einem Jahr „Fakt“. Ein anderes Klatschportal fragte: war es Werbung für einen gesunden Lebensstil oder Medienprovokation?

Quelle: fakt.pl


 Moderator Hubert Urbański, kam auf eine Veranstaltung ebenfalls mit dem Fahrrad - und mit einem Fahrradanhänger. Beide wurden fleißig abfotografiert.

Quelle: pomponik.pl

Bloggerinnen und Blogger fotografierten sich ebenfalls mit ihrem Tretross, wie z. B. Bloggerin und Ministerpräsidententochter Kasia Tusk. Wie ein Klatschportal zügig überprüfte, kostete das gute Stück ungefähr zwei polnische Durchschnittsmonatsgehälter.

Da ging was schief… Statt dem Fahrradfahren eine positive Werbung zu machen, sorgte Kasia Tusk für böse Schlagzeilen. Ihr Gefährt soll 3.000 Zloty gekostet haben.

Quelle: plotek.pl

Im Internet wimmelte es vor einiger Zeit von Schnappschussfotos, die Promis während einer Radfahrt zeigten, wie Skandalnudel und Sängerin Doda auf ihrem pinkfarbenen Gefährt.

Ob in Deutschland so viel Aufmerksam fahrradfahrenden Künstlern geschenkt würde, ist mehr als fraglich.

Einen gegenwärtigen polnischen Fahrrad-Mythos illustriert gut ein Zitat aus einem Artikel über Małgosia Radkiwicz, eine Boutiqueinhaberin. „Ihre Kindheit verbrachte sie in einer Försterei bei Kielce und als sie das Studium angefangen hatte, träumte sie von einem Fahrrad im Retro-Romance-Stil: mit einem schwanartigen Fahrradrahmen, bequemen Sattel und geraden Lenker. Sie stellte sich vor, wie sie im luftigen Kleid fährt. Sie hatte vor, ihre Haare zu Locken zu wickeln, ein Pünktchenkleid anzuziehen, das Rad mit einem Weidekorb zu zieren. Und dann losfahren und stolz wie eine Königin gleiten, gestreckt, als säße sie auf einem Thron, aber sicherlich würde sie dabei die heimlichen Blicke der Jungen in Tweedsakkos merken“, so beschrieb die Zeitschrift „Claudia“ Małgosias Mädchenträume, die tatsächlich in Erfüllung gingen. Weiter erzählt die junge Frau selbst: „Ich fahre jeden Tag Rad, was nicht bedeutet, dass ich für die Tour de Pologne trainiere. Für mich ist das der Lebensstil. Ich möchte daher stilvoll und chic aussehen: gerne in High-Heels [!], im Kleid und Hut [!]. In den Weidekorb beim Lenkrad tue ich frisches Marktgemüse oder Blumen hinein, um es noch romantischer wirken zu lassen. Ich glaube an den Grundsatz: Zeige mir dein Fahrrad und ich sage, wer du bist“. 

„Es ärgert mich, dass man in Polen vom Fahrrad nur in Bezug auf die Erholung denkt. Ich träume davon, dass ein Stadtradfahrer kein Sonderling mehr ist“, fügt sie noch hinzu. Hm, dies widerspricht ein wenig dem, was sie zuvor gesagt hatte. Denn in meiner Stadt (jetzt meine ich Deutschland natürlich), wo es völlig normal ist, Fahrrad zu fahren und keine große Sache daraus zu machen, würde so eine Kleidung verwunderte Blicke anziehen - schon aufgrund des Hutes und der Stöckelschuhe. Keine praktische Fahrradausrüstung, nicht wahr?

Als ich einmal auf eine Veranstaltung mit dem Fahrrad und hohen Absätze kam (das Fahrrad war dabei kein Teil des Stylings, sondern das schnellste Verkehrsmittel) wurde mir wörtlich gratuliert. Ich bewies damals für den Rest der Damen Mut, wenn auch Leichtsinnigkeit

Małgosias Fahrradschmuckboutique wird immer bekannter. Finden kann man da Verschiedenes, von gestrickten Wollhüllen für Fahrradschlösser (der Winter steht vor der Tür), bis Kunstblumen, speziellen Plastikschutzhüllen für Stöckelschuhe und muffinförmigen Ventilkappen. Irgendetwas für Fahrradhelme oder diese selbst - Fehlanzeige. Schade.

Es freut mich aber, dass dem Drahtesel in Polen in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Man organisiert z. B. regelmäßige Veranstaltungen, die für das Fahrradfahren in der Stadt werben (Święta Cykliczne), während derer hunderte Menschen durch die Straßen fahren.

Leider gibt es auch weniger fröhliche Anlässe, zu denen sich die Radfahrer zeigen, wie die gemeinsame Ausfahrt in Lublin, nach dem Tod einer Radfahrerin, die von einem Auto überfahren wurde. Auch wenn die Veranstaltungen gerade ein Zeichen dafür sind, dass es noch nicht ganz alltäglich ist, Rad zu fahren, sind sie ein guter Anfang.


 Im November 2013 wirft Michał Kieś (Facebookprofil „Rowerowa Metropolia Górnośląska“), dem oberschlesischen Woiwodschaftsmarschall Mirosław Sekuła, vor, dass er genau überprüfe, mit welchem Verkehrsmittel seine Mitarbeiter zur Arbeit kommen.

 „Diejenigen, die denken, dass die Radfahrer von ihm begrüßt wurden, liegen jedoch falsch. Woiwodschaftsmarschall Sekuła war der Meinung, dass ein Fahrrad der Ernsthaftigkeit eines Beamten widerspricht“, meinte der Internetnutzer.

 Mirosław Sekuła soll auch mit dem unangenehmen Geruch der Rad fahrenden Mitarbeiter unzufrieden gewesen sein. Außerdem störten ihn die engen Fahrradhosen.

 Der  Woiwodschaftsmarschall schlug zurück und kündigte an, am nächsten Freitag (08.11.13) mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren, um Verleumdungen und Gerüchten ein Ende zu setzen. Er setzte sich drei Kilometer vor der Behörde auf sein Tretross und kam wie ein rassiger Radfahrer an - ausgestattet mit Fahrradhelm, spezieller Weste, Schuhen und einer extra Leuchte. Empfangen wurde er von zahlreichen Reportern.

Quelle: tvs.pl



Zum Weiterlesen

PL

http://polskanarowery.sport.pl/msrowery/1,105126,12564347,Jezdzimy_duzo__po_slabych_drogach_i_nie_chcemy_kaskow_.html 

http://www.cbos.pl/SPISKOM.POL/2012/K_119_12.PDF http://www.swietocykliczne.pl/ 

http://www.lublin112.pl/rowerzysci-upamietnili-smierc-kolezanki/ 

http://lodzcyclechic.blogspot.de/

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